Das Gedicht „Hälfte des Lebens“ wurde innerhalb eines Zyklus von Hölderlin selbst in Druck gegeben. Die Verse erschienen schließlich in Wilmans Taschenbuch für das Jahr 1805. Aus diesem Grund gilt das Gedicht Hälfte des Lebens schon als Ertrag aus jener Zeit in der Hölderlin psychisch krank war.[1]
„HÄLFTE DES LEBENS“ umfasst zwei Strophen mit jeweils sieben Versen, also zwei Hälften, die zusammen ein Ganzes ergeben. In der ersten Strophe wird eine optimistische und zuversichtliche Stimmung erzeugt. Es wird die warme Hälfte des Jahres beschrieben, welche von „gelben Birnen“ und „wilden Rosen“ geprägt ist. Die erste Strophe ist als Sinnbild der Gegenwart zu verstehen, nicht als Vergangenheit oder als erhoffte Zukunft. Sie beschreibt das Hier und Jetzt.
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in der See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen,
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Die Stimmung ist freudvoll, optimistisch und lebensfroh. Die Natur wird hier als Ort der schuldlosen Vollkommenheit erlebt. Es erscheinen Elemente der Liebe, zum Beispiel die wilden Rosen oder Schwäne, die trunken von Küssen ihre Häupter in das Wasser tunken. Dieser freudvollen Hälfte steht die zweite Strophe gegenüber.
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Sie beschreibt die kalte Jahreszeit, den Winter und die trübe Zukunft, in die das lyrische Ich blickt: „Weh mir, wo nehm ich, wenn / Es Winter ist [..]“. Es werden die Blumen vermisst sowie der Sonnenschein, es herrscht Kälte. Dem lyrischen Ich verschlägt es die Sprache. Es sind keine Zeichen der Liebe zu entdecken, eher der Trauer: Schatten, Kälte, Winter.
Wie lassen sich diese gegensätzlichen Strophen innerhalb eines Gedichtes deuten? Ganz einfach, sie gehören zusammen und beschreiben den Lauf der Natur: Sommer und Winter, fröhliche Zeiten und trübe Zeiten. Das Gedicht erinnert daran, dass auf traurige und schattige Zeiten oder Ereignisse wieder sonnige und frohe Zeiten folgen, so ist der Lauf der Natur und so ist auch der Lauf eines Lebens. Möchte man Bezug auf Hölderlin nehmen, so darf man nicht nur das Tragische in ihm und in seinem Leben sehen, die unerfüllte Liebe, den mangelnden Erfolg sowie seine Krankheit und die finsteren Gedanken, die ihn trieben. Man muss auch beachten, wie stark und überwältigend Hölderlin die Natur wahrnahm, oder wie viel Glück er in der Götterbegegnung empfand. Für Hölderlin ist dieses Schwanken zwischen Traurigkeit und einem Empfinden von übermäßigem Glück typisch und einige seiner Gedichte sind von dieser Ambiguität geleitet. Man denke an „Des Morgens“ und „Abendphantasie“, sie sind als zusammengehörig zu lesen. „Des Morgens“ ist mit einer positiven Stimmung gefüllt und in der „Abendphantasie“ keimen die trüben Gedanken auf. Beschäftigt man sich also mit Hölderlin und seinen Gedichten, so ist es von großer Bedeutung, nicht nur die Tragik zu sehen, sondern auch alles Glück und die positive Stimmung der Natur, die ihn ebenfalls ausmachen. Beide Seiten existieren und keine Seite hebt die andere auf. [2]
Nina Kotschner
[1] Vgl. Jürgen K. Hultenreich: Hölderlin - Das halbe Leben. Eine poetische Biographie. Berlin 2018, S.140.
[2] Vgl. Peter von Matt: Vorwort. In: Friedrich Hölderlin. „Und voll mit wilden Rosen“. Hrsg.: Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt am Main und Leipzig 2009, S.14-15.
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