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AutorenbildNina Kotschner

Der Zeitgeist

DER ZEITGEIST ist eine Ode aus der späten Zeit Hölderlins. Die Odendichtung ist ein typisches Produkt des 18. Jahrhunderts und ist in nahezu allen Phasen Hölderlins Dichtung zu finden. Insbesondere zwischen den Jahren 1799 und 1806 verfasste Hölderlin auffällig viele Oden. Diese machten ihn schon zu Lebzeiten bekannt, die Reaktionen jedoch waren gemischt. Einerseits erreichten ihn ermunternde Worte, aber auch verständnislose sowie vernichtende Kritik. Heute weiß man Hölderlins Dichtung vollumfänglich zu schätzen, sie gilt als ein „Höhepunkt in­ der Entwicklung der deutschsprachigen Ode“[1]. [2] Auch das folgende Gedicht Der Zeitgeist, welches der Stuttgarter Ausgabe nach auf das Jahr 1799 datiert ist, lässt sich in diese Reihe einordnen.[3] Das Gedicht umfasst fünf Strophen, zu je vier Versen und folgt dem alkäischen Silbenmaß. Inhaltlich steht insbesondere das Verhältnis von Dichter und Zeit im Fokus, dabei wird die Zeit nicht nur als ein Vergehen von Stunden oder Tagen verstanden, sondern als göttliche Erfahrung.



In der ersten Strophe spricht das lyrische Ich den Gott der Zeit an, welcher in einer dunklen Wolke verortet wird. Er befindet sich über dem Haupt des lyrischen Ichs und ist diesem nicht nur örtlich, sondern auch auf der Metaebene übergeordnet. Die Situation, in welcher sich das lyrische Ich befindet, ist instabil; Es „trümmert und wankt“[4] um das lyrische Ich herum, egal wohin es blickt.


In der zweiten Strophe werden sowohl das lyrische Ich als auch der Gott der Zeit weiter beschrieben. Das Gefälle beider Instanzen wird weiter geöffnet. Das lyrische Ich beschreibt sich als einen zu Boden schauenden Knaben, der in einer Höhle Flucht vor dem Gott der Zeit sucht. Es möchte einen Ort finden, an welchem es nicht von dieser Übermacht beeinflusst wird. Es liegt nahe, dass der Gott der Zeit für die Trümmer und Instabilität, welche das lyrische Ich umgibt, verantwortlich ist, denn diese übermächtige Instanz wird als „Alleserschütt’rer“[5] beschrieben.Das lyrische Ich weiß jedoch nicht genau wie diese Instanz über ihm aussieht und fleht in der dritten Strophe nach einer Begegnung mit dem Vater, welcher das lyrische Ich zum Leben erweckt und mit einem Geist versehen hat.


In Strophe vier und fünf beschreibt das lyrische Ich wie es zu dieser Erschütterung in und um es herum kam. Die „jungen Reben“[6] stehen als Sinnbild für einen jungen Menschen, der seine Umwelt noch nicht kritisch hinterfragt. Die übergeordnete Instanz erscheint als heiterer und allmächtiger Gott. Auffällig ist, dass die erhabene Instanz in jeder Strophe mit einem anderen Namen angesprochen wird, welche scheinbar in Kontrast zueinander stehen. In der ersten Strophe ist es der Gott der Zeit, in der zweiten Strophe ist es der „Alleserschütt’rer“[7], in der dritten Strophe der Vater, in der vierten Strophe der ein heiterer und allmächtiger Gott und in der fünften und letzten Strophe wieder der „Erschütterer“[8]. Wie es zu dieser Kontrastierung kommt wird erst in den letzten beiden Strophen aufgelöst.


In Strophe fünf wird diese reine Seele der „jungen Reben“[9] durch die übergeordnete Instanz, den Gott aufgeweckt und der junge Mensch beginnt sich mit den alten und weisen Künsten zu beschäftigen, was in ihm Erschütterung hervorruft. Verantwortlich ist immer noch der Geist der Zeit, welcher dem lyrischen Ich Leben und Verstand einhaucht. Denn erst dadurch ist es dem lyrischen Ich möglich sich mit den weisen Künsten zu beschäftigen und den Vorgang einer kritischen Reflexion zu beginnen.

In dem Gedicht wird beschrieben, wie sich ein Mensch, insbesondere dessen Weltanschauung und Denken über die Zeit hinweg verändert. Zuerst ist die Seele unbeschrieben, sie nimmt die Umgebung und die verschiedenen Anschauungen wahr, ohne zu reflektieren oder zu hinterfragen. Beschäftigt sich ein Mensch jedoch aufgrund seines „Geistes“[10] oder Intellekts kritisch mit seiner Situation und der Umgebung, in welcher er sich befindet, dann wird er beginnen zu Zweifeln. Er wird sich für neue Vorstellungen öffnen und bemerken, dass nicht alles um ihn herum so ist wie es scheint und dass alles von verschiedenen Perspektiven aus betrachtet werden kann. Dann befindet sich ein Mensch im Umbruch, alles um ihn herum scheint unsortiert, ungeordnet und instabil. Dies ist der Zeitpunkt, an dem sich das Individuum herausbildet. Es muss seine eigene Anschauung finden und lernen seinen eigenen Weg zu gehen. Im Falle dieses Gedichts ist der Ausgangspunkt für die kritische Reflexion mit dem Zeitpunkt gleich zu setzen, an welchem sich das lyrische Ich mit den alten und weisen Künsten zu beschäftigen beginnt. Natürlich steht hier nicht geschrieben, worum es sich dabei genau handelt, aber es liegt nahe darin die Philosophie zu sehen, welche sich mit den großen Fragen des Lebens beschäftigt, oder schlichtweg die Möglichkeit der Reflexion. Wer bin ich? Warum bin ich hier? Gibt es einen Gott? Diese Fragen beschäftigten nicht nur Hölderlin und die Menschen des 18. Jahrhunderts, denn genau diese Fragen werden auch heute noch verhandelt und haben nicht an Aktualität verloren. Insbesondere darin manifestiert sich der Bezug zur aktuellen Lebenswelt. Wohl jeder Mensch kennt die Phasen, in denen er um sich herum nur Unordnung und Trümmer sieht, eine Zeit, in der es sich anfühlt als würde die Welt wanken. Das kann verschiedene Ursachen haben. Eine mögliche Variante, wie es zu dieser Gefühlslage kommen kann ist, dass der Mensch innerlich wankt. Weil er an sich selbst, seiner Situation oder seiner Umwelt zweifelt, kommt es ihm so vor, als würde die Welt um ihn herum in Trümmern liegen. Manchmal hat man als Mensch das Gefühl etwas verändern zu müssen, weil die aktuelle Lebenssituation nicht mehr als erfüllend wahrgenommen wird. Dann sehnt sich der Mensch häufig nach einer höheren Instanz, die Hilfe anbietet, sich zeigt und einen selbst aus dieser Lage hinausführt. Doch nur der Mensch allein hat die Möglichkeit seine Situation zu verändern und aus den scheinbaren Trümmern eine neue und passende Situation zusammenzusetzen. Diesem Ansatz nach ist also das fehlende Gleichgewicht des Menschen der Grund für die Erschütterung. Es gibt jedoch noch einen zweiten Ansatz. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Welt um den Menschen herum tatsächlich ins Wanken gerät, sei es durch die Politik, Krieg oder eine Revolution. All diese Ereignisse bringen ein Ungleichgewicht und eine zwangsläufige Neuorientierung mit sich. Alte Ansichten müssen hinterfragt werden und neue Lösungsansätze sind gefordert.


Auch Hölderlin befand sich im Jahre 1799, auf welches diese Ode datiert ist, in einer Zeit des Auf- und Umbruchs, insbesondere in Bezug auf die Philosophie in Deutschland. Es ist sogar die Rede von einer neuen Philosophie, angeführt durch keinen geringeren als Immanuel Kant, einer der so einiges in Frage stellt und der den Spitznamen Alleszermalmer trägt. Aber auch Fichte, Hegel, Schelling, Schlegel und Schleiermacher waren neben Kant große Akteure der Zeit. Eine Streitigkeit jagte die nächste und doch gibt es etwas, das alle großen Philosophen dieser Zeit miteinander verbindet: Einen Geist und der Drang sich mit Fragen nach Göttlichkeit und nach der Zeit auseinander zu setzen. Sie stellten infrage und begutachteten kritisch was andere Philosophen vor ihnen dachten und auch was Philosophen aus der Gegenwart dachten. Aber auch der Zeitgeist der französischen Revolution kann hineinspielen, von welcher Hölderlin und seine Zeitgenossen durchaus betroffen waren.[11]

Das Gedicht trägt den Titel „Zeitgeist“. Doch wie passt dieser Titel zu dem Gedicht? Hölderlin beschreibt in jener Ode den Vorgang der Weiterentwicklung und Reflexion des lyrischen Ichs. Berücksichtigt man die Zeit, in welcher das Gedicht verfasst wurde, dann schwingt ganz klar der Geist der Zeit oder der Zeitgeist aus dem Ende des 18. Jahrhunderts mit, der wie zuvor beschrieben von Aufbruch und Umbruch geprägt ist. So bildet der damalige Zeitgeist die Grundlage für die Erschütterung des lyrischen Ichs und somit die Basis einer Weiterentwicklung, denn diese ist nach Kant und Nietzsche nur durch Reflexion möglich, dazu gehört das Vorhandene infrage zu stellen.

Haben wir heute auch noch einen Zeitgeist und wenn ja, was verstehen wir heute unter Zeitgeist? Dieser Begriff ist aus der Gegenwart nicht wegzudenken und wir begegnen ihm tagtäglich in Medien, wie Zeitung und Fernsehen, Reden und Ausstellungen. Auch die Begrifflichkeit „am Puls der Zeit“ ist geläufig und so hat der Zeitgeist den Anspruch darauf zu entscheiden, was aktuell ist und was Geltung haben soll. Der Begriff Zeitgeist beschreibt also alles, was unsere heutige Gesellschaft bewegt. Prägend für diesen Begriff ist sein Anspruch auf Aktualität und da diese vergänglich ist, so ist auch der Zeitgeist nichts Konstant­es, sondern ein dem Wandel unterlegenes Konstrukt. Demnach spricht man nicht nur von dem gegenwärtigen oder aktuellen Zeitgeist, sondern gleichwohl von einem zukünftigen oder vergangenen Zeitgeist. Damit ist dann all jenes gemeint, was eine zukünftige Gesellschaft vermutlich bewegen wird oder eine Gesellschaft in der Vergangenheit bewegt hat.[12]


Auch Hölderlins Zeitgenossen beschäftigten sich mit dem Zeitgeist zwischen dem Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Auch Johann Wolfgang von Goethe gehörte zu den kritischen Denkern der Zeit und widmete dem Zeitgeist einige Zeilen in Faust der Tragödie erster Teil (575-577):

„Was ihr den Geist der Zeiten heißt,

Das ist im Grund der Herren eigner Geist,

In dem die Zeiten sich bespiegeln.“[13]

Der heutige Zeitgeist ist maßgeblich durch politische Unruhen und Schwankungen geprägt: Dazu gehört die Flüchtlingskrise, Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten und der Austritt Großbritanniens aus der EU. Auch unsere Generation hinterfragt bestehende Strukturen und fordert neue Ansätze, insbesondere was den Klimaschutz angeht. An dieser Stelle sei Greta Thunberg und die „Fridays for Future“ Bewegung genannt. Bei der Betrachtung des Gedichtes wird deutlich, dass sich Menschen nicht nur in der heutigen Zeit, sondern auch vor rund 2.000 Jahren intensiv mit sich selbst, ihrer Umwelt und dem Zeitgeist beschäftigt haben. Es ist beruhigend zu erkennen, dass es nicht nur unserer Generation so geht und dass nicht nur wir das Gefühl des Umbruchs erleben. Meiner Meinung nach ist es enorm wichtig, dass wir diese Aufbruchsstimmung und den Drang nach Revolution oder Umstrukturierung empfinden, denn alles andere würde zu einem Stillstand in der Entwicklung der Gesellschaft führen.

Nina Kotschner



 


[1] Hölderlin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Hrsg.: Johann Kreuzer. Stuttgart und Weimar 2001, S.309. [2] Vgl. Ebd. S.309. [3] Vgl. Ebd. S.314. 4] Friedrich Hölderlin. Der Zeitgeist. In: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Band 1 Gedichte bis 1800. Hrsg.: Friedrich Beißner und Adolf Beck. Stuttgart 1969, S.300. [5] Ebd. [6] Friedrich Hölderlin. Der Zeitgeist. In: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Band 1 Gedichte bis 1800. Hrsg.: Friedrich Beißner und Adolf Beck. Stuttgart 1969, S.300. [7] Ebd. [8] Ebd. [9] Ebd. [10] Ebd. [11] Vgl. Werner Ross: Der Zeitgeist heißt Kant. In: Friedrich Hölderlin. Und voll mit wilden Rosen. 33 Gedichtinterpretationen. Hrsg.: Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt am Main und Leipzig 2009, S.71-75. [12] Vgl. Lothar Kempter: Herder, Hölderlin und der Zeitgeist. Zur Frühgeschichte eines Begriffs. In: Hölderlin Jahrbuch 1990-1991. Hrsg.: Bernhard Böschenstein, Ulrich Gaier. Heidelberg, Stuttgart 1991, S. 50-51. [13] Johann Wolfgang Goethe. Faust. Der Tragödie Erster Teil. Stuttgart 2000, S.19.

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