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AutorenbildNina Kotschner

Lebenslauf

Aktualisiert: 27. Mai 2020

Was ist eigentlich ein Lebenslauf? Denke ich darüber nach, was ich mit dem Begriff Lebenslauf verbinde, kommt mir ein Dokument in den Sinn, welches unsere bisherigen Stationen im Leben dokumentiert und genau an dem Moment, an dem wir uns gerade befinden, abrupt stoppt. Der Lebenslauf blickt also auf das zurück, was bisher geschehen ist, er pausiert in der Gegenwart und bietet Raum für die Zukunft und irgendwann wird es einen Zeitpunkt geben, an dem der Lebenslauf enden wird. So umfasst der Lebenslauf oder auch der Lauf des Lebens einen Anfang, ein Ende und ganz vieles Dazwischen. Im Folgenden möchte mir Gedanken machen, worum es in dem Gedicht Lebenslauf von Friedrich Hölderlin geht und gleichzeitig einen aktuellen Bezug herstellen.



In der ersten Strophe spricht das lyrische Ich den Adressaten persönlich an:

„Größers wolltest auch du […]“

und verweist auf das, wonach der Adressat strebt: "Größeres. Das passt ganz gut in unsere heutige Gesellschaft: Größer, schneller, weiter. Der Mensch strebt in der Gesellschaft nach Steigerung, Weiterentwicklung. Alles, was bisher erreicht ist, scheint zu klein und nicht gut genug. Und früher wie heute beschreibt Hölderlin passend, dass es Lebensumstände gibt, die der Mensch nicht so einfach überwinden kann, die jeder Mensch erlebt:

„[…] aber die Liebe zwingt / All uns nieder, das Leid beugtet gewaltiger […]“.

Aber auch das gehört in einen Lauf des Lebens hinein und zu einem späteren Zeitpunkt fügt sich alles zusammen, jede positive sowie jede negative Erfahrung. Im ersten Vers wird von einem Bogen gesprochen, der ein ganzes Leben umfasst:

„[…] Doch es kehret umsonst nicht / Unser Bogen, woher er kommt.“

In der zweiten Strophe wird das Leben zum Orkus. Im Kontext ist darunter ein ungeordneter, gar schiefer Raum zu verstehen, in der immer „heil’ge Nacht“ herrscht, schaut man hinauf oder hinab. Hier im Orkus gibt es kein Recht. Es scheint, als sei alles bis dahin Erlebte bedeutungslos. Es scheint, als befinde man sich in einer anderen Welt.

Der Begriff Orkus ist in der griechischen und römischen Mythologie zu finden und bezeichnet eines der Unterreiche sowie dessen Gott. Weitere bekannte Unterreiche und Götter sind Hades und Erebos. Insbesondere bei Orkus und Hades ist die Verknüpfung mit der Unterwelt stärker als die mit der Gottheit.


In der dritten Strophe wird deutlich, dass das lyrische Ich eben diesen Zustand erfahren hat. Hier wird der Vergleich zwischen Unterreich und Himmelsreich aufgemacht. In der zweiten Strophe ist von der Unterwelt die Rede, in der die Wege nicht gerade sind, sondern schief und in der kein Recht herrscht. In der dritten Strophe wird der Vergleich zu den himmlischen, alles erhaltenden Göttern aufgemacht, die das lyrische Ich nicht über die ebenen Pfade geführt haben. Es musste über steinige Pfade gehen und negative Erfahrungen sammeln.

Fragen kommen auf: Warum schützen die Götter das lyrische Ich nicht. Warum sorgen die Götter nicht für Recht? Wieso passieren Verbrechen, Schicksalsschläge, Krankheiten und vieles mehr? Das alles sind auch heute noch aktuelle Themen und Fragen, die den Menschen beschäftigen. Fragen auf die man sich als Mensch in vielen Situationen eine Antwort wünscht, aber nicht erhält.


In der vierten und letzten Strophe geben die Götter eine Antwort:

„Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen“.

Der Mensch, dem alles gegeben wird, Freude ebenso wie Leid, Höhe und Tiefe. Diese Erfahrungen kräftigen den Menschen und lehren ihn Dankbarkeit, für das, was er hat, und für das, was er erlebt. Denn so oft weiß der Mensch nicht zu schätzen, was er hat. Erst wenn dieses schätzbare Gut dem Menschen nicht mehr zur Verfügung steht, realisiert er, dass es voller Bedeutung war. Nach dem Dank für diese Möglichkeiten soll der Mensch verstehen, dass er frei ist. Dass er die Freiheit hat, dorthin zu gehen, wohin er möchte.[1]

Hölderlin nahm sich diese Freiheit von Beginn an. Direkt nach seinem Theologiestudium entschied er sich gegen eine Anstellung als Pfarrer, denn er wollte Dichter sein und mit dem Dichten seinen Lebensunterhalt verdienen. Eine solche Entscheidung lässt ein sehr starkes Bedürfnis nach Freiheit und Selbstverwirklichung vermuten. Gleichwohl erfordert diese Entscheidung auch sehr viel Mut sich gegen die Familie zu stellen und seinen eigenen Weg zu gehen.

Auch in der heutigen Zeit beklagt man sich doch viel zu oft über seine Arbeit, über seine Finanzen, über sein Heim oder alles Weitere. Dabei vergisst man das zu schätzen, was man hat. Wie in der ersten Strophe schon angedeutet, herrscht der Tonus: schneller, größer, weiter. Um zu lernen, was von Bedeutung ist, muss der Mensch erst negative Erfahrungen machen und einen Blick in den Orkus werfen oder einen kleinen Spaziergang dort hindurch wagen. Erst a posteriori, nach der Erfahrung, kann der Mensch sehen, was wichtig ist und was nicht.

Nina Kotschner



 


[1] Vgl. Elisabeth Borchers: Die Irdischen und die Himmlischen. In: Friedrich Hölderlin. „Und voll mit wilden Rosen“. Hrsg.: Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt am Main und Leipzig 2009, S.96-98.

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